Der Wiederaufbau der MARTINSKIRCHE in Stuttgart-Möhringen 1945 bis 1949

Vortrag von Pfarrer i.R. Gerhard Benz anläßlich der Feier des 50jähringen Wiederaufbaues im Oktober 1999.

Der Filderdom Baujahr 1855

Am 11. November 1855, am Tag des Heiligen Martin, wurde in Möhringen auf den Fildern die neue Martinskirche eingeweiht. Die alte Dorfkirche aus dem 15. Jahrhundert war für die zahlennmäßig anwachsende Bevölkerung zu klein, vor allem aber war sie baufällig geworden. Nach längerem Hin und Her hatte man sich zu einem Abbruch und Neubau entschlossen. Christian Friedrich Leins war als Baumeister der neuen Kirche gewonnen worden. Er plante ein Bauwerk im französischen Kathedralstil. Es sollte ein kleiner Dom sein. Bald nannte man die neue Kirche "Filderdom." Der Neubau gereichte "den Bauherren und dem Baumeister zur Ehre."

Zur Wiedereinwiehung 1949 dichtete Otto Ehmann:

"Hoch über alle Häuser ragend,
erkennbar schon aus weiter Sicht.
So seh'n wir unsere Kirche wieder,
>in eindrucksvollem Glanz und Licht".

Die Möhringer hatten die Finanzierung ihres Neubaues der baulastpflichtigen Esslinger Spitalstiftung in einem jahrelangen Gerichtsverfahren abgerungen. Die Esslinger hätten es aus verständlichen Gründen lieber einfacher gehabt und hatten dafür auch Vorschläge fertigen lassen. Schon damals erklärten die Möhringer ihre Bereitschaft, für die aufwendigere Ausführung auch mit eigenen Mitteln einzustehen. Diese Grundhaltung der Möhringer Gremien kam beim Wiederaufbau 1945-49 erneut zum ragen. Leins hatte, um die gewünschte Platzzahl 1700 zu erreichen, den Grundriß gegenüber der alten Kirche fast verdoppelt. Die unteren Stockwerke des Turms und der mittelalterliche Chor blieben stehen. Leins war bemüht, bis ins Detail möglichst viel von der alten Kirche zu erhalten.

Das Ende des Filderdoms

89 Jahre hatte der "Filderdom", Baujahr 1855, Bestand, ein gutes Menschenalter lang. noch 1934/35 hatte man eine gründliche Instandsetzung durchgeführt. Die Kirche hatte durch die Jahrhunderte viele Veränderungen erfahren. Die Zerstörung aus der Luft blieb der technischen Kriegführung des 20. Jahrhunderts vorbehalten. Die Menschen mußten zusehen, wie ihre Kirche niederbrannte und in sich zusammenstürzte. Noch nach Jahrzehnten spürte man den Berichten der Augenzeugen ab, wie nahe ihnen der Anblick der brennenden Kirche gegangen war.

Ein ausführlicher schriftlicher Bericht über die Brandnacht stammt vom damaligen 1. Stadtpfarrer Gotthilf Gammertsfelder. "In der Nacht vom 15. zum 16. März  1944 erfolgte der Fliegerangriff, dem große Teile des alten Möhringen und die Martinskirche zum Opfer fielen. Noch während des Angriffs habe er, Gammertsfelder, vom Pfarrhaus einen Brand in der Spitze des Kirchturms wahrgenommen. Das Feuer habe grünlich gebrannt. Anzeichen für eine Phosohorbombe. Gammertsfelder eilte nach der Entwarnung in die Kirche. Mit einigen beherzten Männdern barg Gammertsfelder "was irgendwie wertvoll war". Das Kruzifix, die Paramente und sonstiges. Ein altes Taufbuch, das mit anderen Kirchenbüchern in einem Raum unter dem Turm gelagert war, weisst noch heute Brandspuren auf.

Im Abkündbuch hatte Gammertsfelder am 12.3. nachträglich notiert: "Letzter Gottedienst in der Kirche vor dem Fliegerangriff". Am Sonntag danach hielt er eine Andacht vor der zerstörten Kirche über das Wort aus dem Propheten Hosea 6,1: "Laßt uns umkehren zum Herren, denn er hat zerrissen, er wird uns heilen, er hat geschlagen, er wird verbinden." Ohne Dach ragten die Giebelmauern des Turmes in den Himmel, zerstört war die schiefergedeckte Pyramide des Turms mit der aufgesetzten gusseisernen "Laterne". Im Kirchenschiff standen noch die Säulen und Teile der Emporen, aber das Gewölbe mit seinen vergoldeten Gewölberippen und Schlußsteinen war zerstört. Der Chor war beschädigt, er hatte zuvor einen blauen Himmel mit aufgemalten goldenen Sternen. Die Orgel war verbrannt, die letzte noch vorhandene Glocke geschmolzen. Die Umfassungsmauern ließen keinen schwerwiegenden sichtbaren Schaden erkennen. Die Gemeinde zog für die nächsten fünfeinhalb Jahre zu ihren Gottesdiensten ins CVJM Vereinshaus um, das damals vom Verein in das Eigentum der Kirchengemeinde übergegangen war, um es vor der Beschlagnahme durch die Partei zu bewahren.

"Es soll alles wieder so werden, wie es war."

Dieseroft geäußerte Wunsch ging nicht in Erfüllung. Man mußte sich mit einem bescheideneren Wiederaufbau begnügen. Dieses "es muß wieder so werden, wie es war" setzte gleichwohl  enorme Energien frei und zeitigte ein Gemeinschaftswerk, das allen Respekt verdient.

Im Oktober 1944 vermerkt das Protokoll des Kirchengemeinderates: An einen Wiederaufbau ist nicht zu denken. Bereits Mitte Juni 1945, als im Lande noch alles drunter und drüber ging, räumte man in einem zweiwöchigen Arbeitseinsatz den Schutt aus der Kirche und am 1. Juli 1945 hielt man in der zerstörten Kirche einen Gedenkgottesdienst, bei dem "3339 RM Opfer gefallen sind". Ähnliche Gottesdienste feierte man in der Folgezeit mehrfach. So ging es weiter: Die einen räumten auf oder taten Handlangerdienste, andere besorgten das Vesper für die Arbeitenden, Bauern und Geschäftsleute, stellten Fuhrwerke und Lkws zur Verfügung und nutzten ihre alten Beziehungen zu Kunden und Lieferanten. Mitglieder des Kirchengemeinderates setzten sich bei den zuständigen Stellen für Baustoffzuteilungen ein. In den Sitzungsprotokollen der Jahre 1946 - 49 findet sich oft der Satz: "Die Sitzung schloß zu später Abendstunde." Das konnte auch nach Mitternacht sein.

Eine große Aktion war zunächst die Holzbeschaffung. Die Rechnungsakten dokumentieren zahlreiche Beifuhren verschiedenster Baustoffe. Die Möhringer Auwärter, Furch, Elsässer "und Genossen" wollten von Anfang an nicht nur ein Notdach, wie es der Oberkirchenrat vorgeschlagen hatte, sondern gleich das endgültige Dach. Wir machen das, sagten sie den zweifelnden Herren der Bauleitung und des Oberkirchenrates, und die "Aktivisten des Wiederaufbaus" machten das, sie besorgten Holz und Nägel und Ziegel und Pappe. Anfang 1946 konnte man Holz im Schwarzwald beim Lieferanten der Firma Auwärter während einer "zehntägigen Reise" abholen. Trotz Bedenken der Kirchenleitung wurde kein Notdach, sondern gleich das endgültige Dach aufgerichtet. Am 16. November 1946 feierte man Richtfest in Anwesenheit des Prälaten Karl Hartenstein, der den Möhringer Einsatz rühmte.

Von Anfang an setzte ein große Spendenwilligkeit der Bevölkerung ein. Am Jahresschluß 1945 konnte der Pfarrer Gammertsfelder im Gottesdienst vermelden, daß 1944 schon 13 000 RM, 1945 29 600 Rm eingegangen waren.

Das übertraf alle Erwartungen. Das Spendenaufkommen setzte sich auch nach der Währungsreform fort, die für die Verantwortlichen zunächst eine große finanzielle Unsicherheit bedeutete. Der Kirchenbezirk Degerloch, die Landeskriche und die Stadt Stuttgart unterstützten den Wiederaufbau mit bedeutenden Beträgen. Regelmäßig wurde zu Opfern für den Kirchbau aufgerufen, man organisierte mehrfach Haussammlungen und, zuletzt 1952, auch einen Glockenbazar in der Turnhalle. Darlehen wurden aufgenommen, obwohl einige Kirchengemeinderäte Bedenken hatten und lieber ohne Darlehensaufnahme bauen wollten. Bis 1946 waren rd. 160 000 DM verbaut, 1955 mit Heizung, Glocken und vollständiger Orgel waren es 320 000 DM. Ohne Materialspende und vielen freiwilligen Helfern und Helferinnen wäre der Wiederaufbau teurer zu stehen gekommen. Wenige Monate vor der Einweihung  heißt es in einem Kirchengemeinderatsprotokoll, das dem Oberkirchenrat zugeleitet worden war: "Wir wissen nicht, ob wir die Sache wie geplant zu Ende führen können."

"Es soll bescheidener werden."

Diese Meinung vertrat von allem Anfang an der Oberkirchenrat, die Bauleitungen und die hinzugezogenen Sachverständigen.

Ohne die landeskirchliche Hilfe konnte bei allem persönlichen Einsatz auch Möhringen nicht bauen. Die Möhringer machten Druck, denn sie wollten so rasch wie möglich wieder eine Kirche, da der Vereinshaussaal, in den man ausweichen mußte, zu klein war. Möglichst rasch und zugleich "wie es früher war", das war nicht zu schaffen...

Es war nicht nur eine Geld-, Raum- und Zeitfrage. Die "Leins'sche Übersteigerung im Schema der Kathedrale" war unter Fachleuten überholt. Beim Wiederaufbau zerstörter Kirchen in Deutschland nach dem Krieg wurden durchweg neugotische Zutaten beseitigt oder nicht wieder hergestellt. Im Gutachten des Vereins für christliche Kunst wird der Einzug einer abgehängten Holzdecke, etwa 3 m niedriger als früher vorgeschlagen. Der Vorsitzende des Vereins, Kirchenrat Kopp, schrieb schon am 1.1.46: "Die Endgestalt wird ästhetische und praktische Vorzüge haben." Dem ist aus heutiger Sicht zuzustimmen. Wenn einst im "Filderdom" auch nicht das mystische Halbdunkel neugotischer Kirchen herrschte, wurde doch über schwere Heizbarkeit und akkustische Mängel geklagt.

Die Pfarrer und "Aktivisten" des Wiederaufbaues.

Die Zerstörung und die Anfänge des Wiederaufbaus fielen in die Amtszeit des 1. Stadtpfarrers in Möhringen Gotthilf Gammersfelder aus Stuttgart-Gablenberg (1890 - 1967). Er war 1934 aus Schützingen, Dekanat Knittlingen, nach Möhringen gekommen. Die Beurteilung seines Wirkens in Möhringen war vor allem wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP uneinheitlich. Sein unerschrockener Einsatz in der Brandnacht, sein seelsorgerliches und gemeindeleitendes Wirken während des Krieges und in den Anfängen des Wiederaufbaus verdient Anerkennung. Gammertsfelder mußte sich einem Spruchkammerverfahren unterziehen und auf Verlangen der Militärregierung die Stelle wechseln. Er ging im November 1946 nach Sülzbach, Dekanat Weinsberg.

Nachfolger Gammertsfelders wurde nach Ostern 1947 Pfarrer Viktor Stäbler. Er kam aus Gomaringen nach Möhringen. Der Kirchengemeinderat hatte sich einen lebendigen Prediger gewünscht, der sich jeder politischen Betätigung enthält. Er trat sein Amt in einer schwierigen Zeit an und hatte mit dem Wiederaufbau der Martinskirche eine kräftezehrende Aufgabe vor sich. 1950 schrieb er in einem Brief an den Oberkirchenrat, er habe manchmal nicht mehr geglaubt, daß das Werk wie geplant abgeschlossen werden könnte, ein zweites Mal wolle er das nicht machen. Er wurde zum Möhringer Baupfarrer der Nachkriegszeit.

Auch der Kirchengemeinderat hatte unter der Nazizeit und dem Krieg gelitten. 1933 hatten unter chaotischen Verhältnissen die letzten Wahlen zum Kirchengemeinderat stattgefunden, erst 1947 wurde wieder regulär gewählt. Während des Krieges trat der Kirchengemeinderat selten zusammen. Es gab im Kirchengemeinderat drei Gruppen: Gemeinschafts- und CVJM-Leute, Parteimitglieder und solche, die politisch und kirchlich weniger festgelegt waren. Der Kirchengemeinderat ergänzte und verjüngte sich bis 1947 durch Nachwahl und durch Aufstockung der Normalzahl um zwei Mitglieder. Es wurden damals um die 40 Jahre alte Handwerker und Geschäftsleute nachgewählt. Sie dürften mit großem persönlichem Einsatz die Hauptlast des Wiederaufbaus getragen haben.

Die Namen Auwärter, Furch, Elsässer, Schrade, Auch werden immer wieder genannt. Aus der Sicht des Oberkirchenrates, der Sachverständigen und der Architekten waren die Möhringer "Aktivisten" ebenso tatkräftig wie eigenwillig und mußten gelegentlich zur Ordnung gerufen werden.

Die Baumeister des Wiederaufbaues

Die Anfänge des Wiederaufbaus bis zum Frühjahr 1946 lagen in den Händen von Oberbaurat Klatte aus Degerloch. Diese Zeit vor allem geprägt von einer äußerst schwierigen Materialbeschaffung und Materialzuteilung. Es ging um die Frage Notdach oder gleich endgültiges Dach. Im Sommer 1946 gab Klatte seinen Auftrag zurück, nachdem es zu gegenseitigen Vorwürfen wegen der Baustoffbeschaffung gekommen war. Im Juni 1946 wurde ein Bauausschuß eingesetzt. Ihm gehörte neben dem Pfarrer (zuerst Gammertsfelder und später Stäbler) und dem Kirchenpfleger Deuscher, die Herren Gustav Kieß, Paul Auch, Gottlob Auwärter und Paul Furch an, mit beratender Stimme auch Karl Elsässer und Paul Auwärter.  Im August 1946 gab es eine bewegte Kirchengemeinderatssitzung in Abwesenheit Gammertsfelders mit Vertretern des Oberkirchenrates, in der die Kirchengemeinde mehr oder weniger auf die Linie des Oberkirchenrates festgelegt wurde. Auf Bitte des Kirchengemeinderates wurde Prof. Seytter aus Sonnenberg als Architekt bestellt. Er war damals Professor für Innenausbau an der TH Stuttgart und schon seit 1928 landeskirchlicher Bauberater mit einem eigenen Architekturbüro. Als ausführender Architekt des Büros Seytter wird Architekt Pottkamp genannt, als örtlicher Bauleiter Architekt Kraus. Prof. Seytter leitete auch den Wiederaufbau der Stuttgarter Stiftskirche.

Umstrittene Entscheidungen

Private Bauherren entscheiden nur für sich, bei öffentlichen Bauten müssen Gremien mehrheitlich entscheiden. Oft mischt sich noch eine mehr oder weniger informierte und parteiische Öffentlichkeit ein. Das belastet die verantwortlichen Gremien und erschwert öffentliches Bauen zusätzlich.

Im April 1948 fiel die Entscheidung für den Einbau einer tiefer eingezogenen polygonalen Holzdecke. Es obsiegten nicht nur praktische und finanzielle Gründe, sondern auch die Einsicht, in einer Notzeit einen dem evangelischen Predigtgottesdienst angemessenen Kirchenraum zu schaffen. Die Entscheidung fiel im Kirchengemeinderat mit 13 : 4 für eine eingezogene Holzdecke und gegen die Wiederherstellung des früheren hohen Gewölbes.

Noch blieb den Verfechtern der Wiederherstellung des alten Zustandes die Hoffnung auf den Turm. Türme haben beim Wiederaufbau kriegszerstörter Kirchen eine große Rolle gespielt. Die Entscheidungen darüber waren besonders umstritten.

Der "Filderdorm" hatte eine von Leins entworfene, in Wasseralfingen hergestellte gußeiserne Laterne. Sinnigerweise hatte gerade dort der Brand seinen Ausgang genommen. Der Turm war 63 m hoch. Unter "Laterne" versteht man einen schlanken, auf Säulen ruhenden Turmaufsatz. 1948 legte Prof. Seytter zwei Entwürfe vor, mit und ohne "Laterne". Man kann an das Jesuswort denken: "Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; dann leuchtet es für alle im Hause.". (Matth. 5, 15)). Nach heftigen Diskussionen, die beinahe zum Rücktritt Seytters geführt hätten, fiel die Entscheidung für den Turm in seiner heutigen Form, ohne Laterne, jedoch mit einem goldenen Hahn als Symbol der Wachsamkeit.

Über die Gestaltung des Innenraums finden sich nur knappe Notizen in den Protokollen. Man war unterschiedlicher Meinung hinsichtlich der Bemalung der Holzdecke mit Christus, dem Weltenrichter.  Prof. Yelin hatte den Auftrag dazu erhalten. Der Standort der Orgel auf einer niedrigeren neuen Westempore wurde rasch beschlossen. Der Taufstein sollte auf seinen alten Platz  in der Mitte vor dem Altar kommen. Inzwischen wurde er zur Seite gerückt. Anstelle des seitherigen Altars aus Eichenholz wurde ein Altar aus Dettinger Stein gefertigt. Eine hölzerne Kanzel wurde in Auftrag gegeben. Das Protokoll gibt keine Auskunft, warum die alte Kanzel und die alten aus Tannenholz geschnitzten Emporenbrüstungen, die, den Bildern der zerstörten Kirche nach, noch teilweise erhalten waren, nicht  wieder hergerichtet wurden. Der Fuß der alten Kanzel, einst eine Emporensäule der Kirche vor 1855, steht heute in der Ecke am Eingang zur Sakristei. An seine Stelle kam ein Kanzelfuß mit einer eindrucksvoll geschnitzten Figur des Christophorus mit dem Christuskind. Pfarrer Gammertsfelder berichtete, daß er in der Brandnacht das Kruzifix vom Altar geborgen habe. Das Protokoll gibt keine Auskunft über den Verbleib des Kreuzes und warum es durch ein einfaches Holzkreuz ersetzt wurde. Eva-Maria Seng berichtet in ihrer Dissertation über den Architekten Christian Leins, daß Leins für die Martinskirche eine aus Zement gegossene Statue der Heiligen Katharina herstellen ließ, da die Kirche neben dem Heiligen Martin als Hauptpatron auch der Heiligen Katharina, Maria und Barbara geweiht gewesen sei.  Über diese Statue fand ich nirgends sonst eine Nachricht. Auch über die alten Chorstühle, die Leins aus der Vorgängerkirche übernommen hatte, findet sich keine Nachricht. Waren sie verbrannt oder beschädigt? Wurden sie beim ersten Aufräumen als nicht mehr brauchbar entfernt?

Der "Filderdom" wurde im Inneren und Äußeren großenteils nicht wiederhergestellt. Im Äußeren blieb durch die frühe Entscheidung, das endgültige Dach zu errichten, der basilikale dreischiffige Aufriß erhalten, aber die gotische Ornamentik wurde nicht hergestellt. Im Inneren wurde der Chor rekonstruiert und in der alten Form in Stuckausführung erneuert. Beim Holzwerk der Kanzel, der Emporenbrüstungen verzichtete man auf Verzierungen.

Leins hatte viele Teile aus der alten Kirche verwendet oder von anderen Kirchen zugekauft. Unter anderem wurde das zum Verkauf anstehende Orgelfester aus der Stuttgarter Stiftskirche erworben und als Maßwerkfenster im südlichen Kreuzgiebel eingesetzt. (Seng, S. 446) Beim Wiederaufbau konnte oder wollte man vom Filderdorm fast nichts mehr verwenden.

Kirchweih in Möhringen

Bei der Wiedereinweihung der Martinskirche ging man weg vom Fest des Heiligen Martin und legte die Einweihung auf den Kirchweihsonntag, den 16. Oktober 1949. Man hatte sich durch viele Schwierigkeiten gekämpft. Pfarrer Stäbler schildert, wie man während des Baues immer wieder vor unerwarteten Problemen stand. Nach der Währungsreform 1948 habe man wenigstens arbeiten können "und wir arbeiteten", schrieb er. Die Kosten liefen davon, verdoppeln sich von den ersten Kostenschätzungen her. Die Hilfsbereitschaft der Bürgerschaft wurde auf die Probe gestellt und bewährte sich.

Am 16. Oktober 1949 war es soweit. Der Tag begann mit einem Turmblasen des Posaunenchores, dann zog die ganze Gemeinde mit dem Kirchengemeinderat, dem Landesbischof D. Martin Haug, dem Dekan Kopp aus Degerloch, den Pfarrern Stäbler und Schubert, den Architekten vorneweg, vom Vereinshaus, das fünf Jahre als Domizil der Gemeinde gedient hatte, durch die Filderbahnstraße zur Martinskirche.

Prof. Seytter übergab den Schlüssel, Landesbischof Haug predigte über Psalm 46. Das war auch der Psalm der Kirchweihe 1855 gewesen. Die Ortspfarrer Stäbler und Schubert  waren für die Liturgie zuständig. Der Kirchenchor sang unter der Leitung von Emil Kübler, dessen Name noch heute häufig erwähnt wird. Der Posaunenchor wurde von Karl Metzger geleitet. Eine Glocke erklang vom Turm, ich nehme an, es war die große, schlesische Glocke aus Breslau, die mit vielen anderen beschlagnahmten Glocken den Krieg überstanden hatte und der Möhringer Kirchengemeinde bis heute leihweise überlassen wurde. Als Orgel diente ein Leihinstrument der Firme Weigle in Echterdingen. Schon im Juli hatte man den Turm vollendet und den vergoldeten Turmhahn aufgesetzt. "Möge der Turmhahn ein Sinnbild der Wachsamkeit bedeuten", rief Pfarrer Stäbler der Gemeinde zu.

Die Bilder des großen Festtages zeigen die Männer des Kirchengemeinderates vor dem Vereinshaus. Ein anderes Bild zeigt die überaus große Zahl namentlich genannter Helfer am Bau, die sich auf der Kirchentreppe versammelt hatten. Man hatte sich bemüht, beim Bau vor allem Möhringer Betriebe zu berücksichtigen. Die Rechnungsakten gleichen einem Möhringer Firmenverzeichnis der Nachkriegsjahre. Es hat sich später verschiedentlich als nützlich erwiesen, vorhandenes Wissen abrufen zu können. Eine große Schar von Kinderkirchkindern hatte sich zum festlichen Kindergottesdienst eingefunden. Vier Diakonissen, zwei Kinderschwestern und zwei Krankenschwestern durften nicht fehlen.

"Oh sei gegrüßt du Tag der Freude,
auf den wir hofften spät und früh.
Du bist nun angebrochen
nach langer Arbeit, Sorg und Müh",

dichtete Otte Ehmann. Die Möhringer haben gefeiert und gedankt, Gott und den Menschen, sie durften mit Fug und Recht feiern, auch ein wenig sich selbst. Sie durften stolz auf ihr Werk sein. Die Möhringer Bürgerschaft und Kirchengemeinde hatten eine bewundernswerte Gemeinschaftsleistung erbracht. Stäbler meinte, wenn es nicht zeitweilig so große Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte, wäre der Wiederaufbau schneller vonstatten gegangen und die Opferbereitschaft der Bürgerschaft noch größer gewesen.

Der Wiederaufbau wurde zum sichtbaren Zeichen des Neuanfangs. Die Spuren des Krieges sollten möglichst rasch getilgt werden, aber einen großartigen Wiederaufbau ließen die Verhältnisse und die Zeit nicht zu. Es wurde mehrfach gefragt, ob man denn bei so großer Not der Bevölkerung überhaupt an einen Kirchenbau denken könne. Noch einmal Ehmann:

"Bewahr uns Gott vor eitlem Stolze,
wenn unser Auge auf ihr ruht.
Nur eines soll uns tief bewegen,
zu danken den, der alles tut."

Pfarrer Stäbler berichtete 1950 in einem Schreiben an den Oberkirchenrat: "Der neue Kirchenraum findet das gute Urteil aller Besucher". An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert. Bei der letzten Renovierung der Martinskirche im Jahre 1993 bestand das Denkmalamt darauf, den Zustand von 1949 sichtbar zu machen.

50 Jahre Martinskiche Baujahr 1949

Im ersten Winter 1949/50 muss die Gemeinde während der Gottesdienste gefroren haben, denn die Warmluftheizung wurd erst kurz vor Weihnachten 1950 in Betrieb genommen. Der ursprüngliche Vertrag mit der Orgelbaufirma Weigle wurde aufgekündigt und die Ludwigsburger Firma Walcker mit dem Bau der großen Orgel beauftragt. 1951 wurde der erste Bauabschnitt der Walckerorgel mit 11 Registern eingeweiht, am 16.10.1955, zugleich mit dem hundertjährigen Jubiläum der Kirche, die vollständige Orgel mit 26 Registern.

Am 19.10.1952 fand die Glockenweihe statt. Man beging sie ähnlich feierlich wie die Einweihung. Die Gemeinde war zum Glockenguß bei der Firma Kurtz eingeladen worden.

Schon am 4.10.1952 hatte man die Glocken im Festzug auf einem geschmückten Pferdefuhrwerk eingeholt. Vom Turm der Martinskirche erklingen nun vier Glocken. An der Beschaffung der Glocken waren auch die Möhringer in Amerika mit einem namhaften Betrag beteiligt. Gustav Kiess hatte auf Bitten der Möhringer unter seinen Landsleuten in Amerika eine Sammlung organisiert. Die "Amerikaner" unterstützten damals ihre Verwandten mit vielen Nahrungsmitteln und Kleiderpaketen.

Der Einbau der eindrucksvollen farbigen Chorfenster mit Szenen aus den Evangelien und der Apostelgeschichte, entworfen von Prof. Yelin und gefertigt von der Kunstglaserei Sailer in den Jahren 1960 und 62, können als die Krönung des Wiederaufbaus angesehen werden. Sie lenken den Blick der feiernden Gemeinde zum Licht des auferstandenen Christus.

Das Erbe bewahren

Viele wurde im Laufe der letzten 50 Jahre getan. Die erste Warmluftheizung wurde durch eine moderne Fußbodenheizung ersetzt. 1985 wurde der Turm neu verputzt. An der Orgel wurde vieles verbessert, geflickt, renoviert. Mehrmals bekam die Kriche einen neuen Innenanstrich, zuletzt 1993 unter eingehender Beratung des Denkmalamtes und eines Restaurators, der sich vor allem um die Farbgebung des mittelalterlichen Chores kümmerte. Der knarrende Dielenboden der Empore wurde verschraubt. Verschiedene Steinmetzarbeiten an der Westseite und an der Stützmauer des Kirchplatzes waren notwendig geworden. Auf beiden Giebeln der Querschiffe wurden durch Steinmetz Haug neue Kreuzblumen aufgesetzt. Die Kirche bekam eine elektronisch gesteuerte Läuteanlage und Uhr, einen neuen Heizkessel, Paramente wurden angeschafft nach Entwürfen von Frau Dinkelacker und Frau Haist. In jüngster Zeit wurde eine moderne Schwerhörigenanlage eingebaut, abgängige Rotdornbäume wurden neu gepflanzt. So mancher Sturm ging über das 1946 heftig umstrittene Kirchendach. Der Dachdecker musste Sturmschäden an Dach und Turm ausbessern, selbst Bergsteiger rückten an, um eine Birke hoch auf dem Turm zu entfernen. Bei vielen dieser Maßnahmen und Anschaffungen konnte man sich wie eh und je auf den Fleiß, die Hilfsbereitschaft und Opferwilligkeit der Gemeindekreise und der Bevölkerung verlassen. Die Kirche hat wie in den Jahrhunderten zuvor seit 1949 ihren segensreichen Dienst als Stätte der Verkündigung getan. Junge Generationen sind herangewachsen und haben die Verantwortung für ihre Kirche übernommen.

Eine große Gemeinde braucht eine große Kirche

Die Erbauer der Jahre 1945-49 hatten sich wieder eine große Kirche gewünscht, als man 1700 Sitzplätze angab; jetzt sollten es noch 900 sein. (Diese Zahl teilte mir mein Amtsvorgänger Pfarrer Rommel mit. Anm. d. Verf.) 1945 zog es viele Menschen in die Gottesdienste, der Gottesdienstbesuch normalisierte sich jedoch im Laufe der Jahre. Die Zeit der Zentralkirchen für einen Ort oder einen Stadtteil ging zu Ende. Die Stadtteile wuchsen und man vertrat den Grundsatz, die Kirche müsse zu den Menschen. So baute man in neu entstandenen Stadtteilen Kirchen und Gemeindezentren und schuf neue Pfarrstellen. Man benötigte kleine Kirchen und Zentre, in denen sich ein vielfältiges Gemeindeleben entwickeln konnte. Die beim Bau der Martinskirche gefällte Entscheidung für einen einfacheren Kirchenraum entsprache den alsbald einsetzenden veränderten liturgischen und gottesdienstlichen Bedürfnissen.

Die "Väter" des Wiederaufbaus - Frauen waren seinerzeit in den gewählten Gremien nicht vertreten - haben um die rechten Entscheidungen manchmal bis nach Mitternacht "gerungen", wie man sich damals gerne ausdrückte. Man kann heute sagen: Sie haben es recht gemacht. Ihre Tatkraft und ihr Gemeinsinn ist bewunderns- und nachahmenswert.

Gerhard Benz, im November 1998

Quellen:

Archiv des geschäftsführenden Pfarramtes Martinskirche Nord. 1945 ff
Schriftverkehr
Rechnungsakten der Kirchenpflege
Programme und Schriften zur Einweihung 1949
Artikel Pfarrer Stäbler im Gemeindeblatt 06.1950 und 12.1955
Kirchengemeinderatsprotokolle
Abkündbücher
Archiv beim Evang. Oberkirchenrat. Akte Stuttgart Mörhingen
Abt. Organisations- und Vermögensverwaltung.
Personalakte Pfarrer Gammertsfelder

Literaturliste:

Eva-Maria Seng: Der evangelische Kirchenbau im 19. Jahrhundert, die Eisenacher Bewegung und der Architekt Christian Friedrich Leins. Dissertation 1995 in Tübinger Studien zur Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 15, Abschnitt "Ein würdiger Kirchenbau - Möhringen auf den Fildern, S. 436-450 mit Bildmaterial S. 55-57
Die Verfasserin bezieht sich u.a. auf Michael Wolf, Möhringen auf den Fildern, Kirchen und Kirchthurm Baurechnung 1852-1857, S. 54f, S. 143, und S. 210-216
Stadtarchiv Stuttgart, Möhringen Nr. 632

Peggy-Petra Wandschuh: Der Wiederaufbau der Stuttgarter Stiftskirche. Dissertation Stuttgart 1990

Konrad Gottschick: Erinnerungen an den Wiederaufbau der Stuttgarter Stiftskirche.
Bibliothek OKR Stuttgart.

Wörtliche Zitate aus den Quellen sind als Zitate kenntlich gemacht, aber in der Regel nicht ausdrücklich nachgewisen.

(Nach einen Vortrag von Pfarrer i.R. Gerhard Benz anläßlich der Feier des 50jähringen Wiederaufbaues im Oktober 1999)